Was ich heute erlebt habe, bedarf eines Beitrages, denn es war eindrücklich und beängstigend zugleich: Ich war in der katholischen Weihnachtsmesse.
Eigentlich wollte ich ja nur den Chor und die Musik hören gehen, aber das ist nur recht schlecht möglich, ohne der ganzen Zeremonie beizuwohnen, und so betrachtete ich um elf Uhr morgens, als ich die Dreifaltigkeitskirche betrat, die kommenden anderthalb Stunden als kulturelle, religiöse und allgemeine Weiterbildung. Gehört hatte ich ja schon von diesen katholischen Gottesdiensten, wo der Prälat etwas sagt und die Gemeinde wie von Geisterhand antwortet. Und nun sollte ich es also selber erleben! Und wie ich es erleben sollte!
Die Kirche war schon gut gefüllt, als ich ankam, aber ich fand trotzdem noch ein Plätzchen, relativ weit hinten, am Rande einer Sitzbank. Ich installierte mich und bemerkte, dass auch bei den Katholiken die Sitzbänke nicht bequemer sind als bei uns Protestanten: Nur ein ganz dünnes Sitzkissen für den Allerwertesten und eine Rückenlehne, die jedem Spinalorthopäden Tränen der Freude entlocken muss, weil er mit grosser Kundschaft rechnen kann. Da auch die Beinfreiheit mehr als zu wünschen übrig liess, versuchte ich, meinen rechten Fuss auf dieser Fussleiste vor mir zu deponieren, was mir aber auch nicht behagte. Der einzige Effekt dieses Versuchs war, dass der alte Mann zu meiner Linken mich wütend anschnaubte, an der Fussleiste zu nesteln begann und sie hochklappte. Ah, hatte ich mich also geirrt: Es war gar keine Fussleiste, sondern eine Kniefallraste, auf der sich fromme Christen fortan die Hosen dreckig machen, weil ich sie mit meinen Schuhen beschmutzt habe. Ich entschuldige mich hierfür nachträglich.
Derweil ich auf den Beginn des Spektakels wartete – und mich selbstverständlich in Grund und Boden schämte für mein Fussleistenmissgeschick – blieb mir genügend Zeit, einmal die Kirche in Augenschein zu nehmen. Ein schönes Gebäude! Das Presbyterium in schönem Sonnengelb bemalt, die Fenster glasig und bunt, die Decke hoch, die Säulen aus glänzend poliertem Stein mit manierlichen Kapitellen, alles in allem ein ansprechender Eindruck, der sich mir bot.
Das Klingeln eines hellen Glöckleins riss mich aus meinen Betrachtungen und ich staunte nicht schlecht, als plötzlich eine ganze Horde weissgekleideter Gestalten den Mittelgang entlang schritt. Ein Mann trug gar einen wunderbar goldgelben Talar, um den ich ihn ein wenig benitt (benod? benied? Leider kennt nicht einmal die Gesellschaft zur Stärkung der Verben das Präteritum von beneiden), hierbei handelte es sich ganz offensichtlich um den Sektenguru. Das Personal war eingetroffen, es konnte also losgehen!
Eine merkwürdige Angelegenheit, so eine katholische Messe. Eröffnet wurde sie vom Oberzauberer persönlich mit den Worten «Liebe Mitmenschen», was mich ein wenig enttäuschte, hatte ich doch mit einer lateinischen Litanei gerechnet. In der Tat war es dann aber immerhin so, dass sich zeitweilig ein eigenartiger Dialog zwischen Publikum und Priester entspann, dem ich aber nicht folgen konnte. Ich konnte nicht einmal ein eindeutiges Stichwort ausmachen, das die Gläubigen zu ihrem Gemurmel angestiftet hätte. Für mich ging das wie durch Zauberei.
Auch das ewige aufstehen und absitzen schien mir anfänglich eine sonderbare Sitte. Mit der Zeit aber kam ich auf das tiefere Geheimnis dieses Brauches: Steht der Mensch auf, so hindert ihn das am Entschlummern in die tiefen Täler traumlosen Schlafes. So gesehen ist es eine glatte Sache, mit einer simplen Armbewegung ganze Menschenmassen auf- und abzudirigieren.
Der nächste Höhepunkt bot sich beim Abendmahl: Der Priester brach die Oblate, erzählte, was Jesus beim letzten Abendmahl erzählt hatte, hob die Oblate hoch über seinen Kopf, und dann wurde gebimmelt, was das Zeug hielt: Zuerst *dödlöng-dödlöng-dödlöng* von links, dann höher *didling-didling-didling* von rechts und dann nochmal *dödlöng-dödlöng-dödlöng* von links. Danach nahm der Gottesdiener den Kelch mit dem Wein, erzählte, was Jesus beim letzten Abendmahl erzählt hatte, und hob den Kelch hoch über seinen Kopf. Wieder *dödlöng-didling-dödlöng*. «Dasch ja itz no cheibeluschtig mit dene Glöggeli», hatte ich gerade noch Zeit, zu denken, als bereits die nächste Bedrohung in Form eines Messdieners nahte: Langsam und drohend schritt er mit einer Schale voller Oblaten in der Hand den Gang entlang auf mich zu, und mich durchzuckte es siedendheiss: Jetzt ist Interaktion mit dem Publikum gefragt! Die Knie wurden mir weich wie Butter, denn schliesslich war dies meine erste Messe und ich hatte doch keine Ahnung, was man da beim Abendmahl zu tun pflegt. Stellte ich mich jetzt dumm an, dann flöge ich auf, und alle wissen, was fromme Katholiken mit Ungläubigen anstellen: Sie stecken sie auf den Scheiterhaufen. Zum Glück sind heutige Katholiken aber weit weniger radikal als ihre mittelalterlichen Vorfahren, und so überlebte ich das Abendmahl unbeschadet, indem ich einfach an meinem Platz sitzen blieb und dem Treiben aus sicherer Distanz zuschaute.
Bald darauf der nächste brenzlige Moment: Der Priester hatte irgend etwas gesagt (meine Gedanken waren in dem Moment leider gerade abgeschwoffen), und plötzlich begannen alle in der Kirche, sich gegenseitig die Hände zu schütteln. Ich wunderte mich und wusste nicht, wie mir geschah, als meine mir vollkommen unbekannte Sitznachbarin meine Hand ergriff und mir wohl eine frohe Weihnacht wünschte. Zu baff war ich, als dass ich verstanden hätte, was genau sie mir sagte. Ich lächelte einfach freundlich und stellte mich dumm, was mir ja nicht allzu schwer fällt.
Irgendwann einmal war dann der Gottesdienst fertig, und vielleicht sollte ich jetzt auch noch erwähnen, dass sowohl Chor als auch Orchester und Orgel wirklich gut gespielt und gesungen haben. Insbesondere die Solosänger verdienen lobende Worte, hierfür hat sich mein abenteuerlicher Ausflug gelohnt.
Mein abenteuerlicher Ausflug, der ja noch gar nicht zu Ende erzählt ist! Als ich nämlich die Kirche verlassen hatte, und noch ein wenig vor dem Eingang herumstand, stand wie aus dem Nichts plötzlich der goldgelb-betalarte Priester vor mir, lächtelte mich an, ergriff meine Hand und sprach: «E fröhlechi Wiehnacht wünsch ich ihne!» Ich war ganz und gar verdattert und sagte, glaub ich, nur: «Merci, glichfaus», denn zu mehr sah ich mich momentan ausserstande. Ich schnappte mir schnell mein Velo und rauschte vondannen.
… vielleicht doch nicht eine ganz so verkehrte Sache, dieser Gottesdienst, wenn man denkt. Liesse man den ganzen langweiligen Sermon weg, mit dem ich als streng säkular geprägter Mensch nichts anfangen kann, dann bliebe ein schönes musikalisches Erlebnis und freundliches Händeschütteln, gegen das – ausser aus hygienischer Sicht – nicht das Geringste einzuwenden ist. Wer weiss, vielleicht gehe ich wieder einmal Katholiken schauen.